AsJ Baden-Württemberg

 

Tariftreuegesetz contra Europarecht

Im Koalitionsvertrag vom 27. April 2011 haben SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vereinbart, ein Tariftreuegesetz für Baden-Württemberg zu verabschieden. Danach dürfen öffentliche Aufträge des Landes und der Kommunen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die ihren Beschäftigten Tariflöhne zahlen. Das geplante Tariftreuegesetz soll Wettbewerbsverzerrungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen entgegenwirken, die durch den Einsatz von Niedriglohnkräften entstehen. Außerdem soll das Gesetz von Lohndumping und vor der Belastung der sozialen Sicherungssysteme schützen.

Umgesetzt werden soll die Tariftreue der Unternehmen durch die Abgabe von Tariftreueerklärungen. Dies bedeutet, dass sich die Unternehmen bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten müssen, die bei der Auftragsabwicklung eingesetzten Arbeitnehmer „nach Tarif“ zu bezahlen. Verstöße werden mit einer Vertragsstrafe sanktioniert. Fehlt es an einer tariflichen Regelung, so müssen sich die Unternehmen verpflichten, den Arbeitnehmern einen Mindeststundenlohn von 8,50 € zu bezahlen. Wird ein sog. Nachunternehmer eingesetzt, so muss das (Haupt-)Unternehmen Tariftreueerklärungen des Nachunternehmens vorlegen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die Verpflichtung zur Tariftreue durch den Einsatz von Subunternehmern unterlaufen wird.

Es müsste eigentlich jedem einleuchten, dass der Staat sich nicht zum Handlanger von Lohndumping und unfairem Wettbewerb machen darf. Es wäre fatal, wenn ausgerechnet die öffentliche Hand an der Verbreitung des Niedriglohnsektors und an der Verdrängung von tariftreuen Unternehmen mitwirken würde. Die Folgen müssten früher oder später die sozialen Sicherungssysteme tragen. Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch verschiedene Wirtschaftsverbände haben sich daher für ein Tariftreuegesetz ausgesprochen.

Überraschenderweise hat allerdings der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem relativ knapp begründeten Urteil vom 3. April 2008 (C-346/06) in der Rechtssache Rüffert für ein Tariftreuegesetz erhebliche rechtliche Hürden aufgerichtet. Nach diesem Urteil ist es den Mitgliedstaaten zwar europarechtlich erlaubt, die Auftragsvergabe davon abhängig zu machen, dass Mindestlohnsätze von den Unternehmen gezahlt werden. Zu den „Mindestlohn-sätzen“ zählt der Europäische Gerichtshof aber - vereinfacht ausgedrückt - nicht die jeweils einschlägigen, in aller Regel höheren Tarife, sondern nur die Mindestentgelte, die in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen oder sonstigen Rechtsvorschriften festgelegt sind und damit bei jeglicher – öffentlicher oder privater - Auftragserfüllung eingehalten werden müssen.

Den Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes hat der EuGH in seinem Urteil zwar angesprochen, aber mit wenigen Sätzen beiseite gewischt: Der Schutz der Arbeitnehmer müsse durch Allgemeinverbindlichkeit von Mindestentgelten sichergestellt werden. Verlange man von den Unternehmen die Zahlung von – höheren – tariflichen Entgelten, so stelle dies eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar. Das Ergebnis ist: Nach dem Urteil des EuGH kann durch Tariftreueerklärungen nur ein Minimalschutz durchgesetzt werden.

Zuvor hatten der Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 20. Juli 2006 und das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil vom 10. Juli 2006 (1 BvL 4/00) die Rechtslage noch ganz anders gesehen. Beide Institutionen hatten angenommen, dass bei der Auftragsvergabe durch die öffentliche Hand von den Unternehmen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes die Einhaltung der jeweils einschlägigen Tarife verlangt werden könne. Die Dienstleistungs- bzw. Berufsfreiheit müsse insoweit zurückstehen.

Angesichts der Vorgaben des EuGH wird die Erarbeitung eines europarechtskonformen Tariftreuegesetzes zu einer rechtlichen Gratwanderung. In der 14. Legislaturperiode hatte die Fraktion der SPD einen Gesetzentwurf vom 29. Januar 2007 (Drucksache 14/849) vorgelegt, wonach die Vergabe von öffentlichen Aufträgen von der Einhaltung der in Baden-Württemberg geltenden Tarife abhängig gemacht werden soll. In einem weiteren Gesetzentwurf vom 18. Januar 2011 (Drucksache 14/7483) wurde versucht, den Vorgaben des EuGH gerecht zu werden. Danach sollte von den Unternehmen (mit einer Sonderregelung für den öffentlichen Personennahverkehr) die Zahlung der Mindestentgelte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) verlangt werden. Das mindert die Wirkung einer Tariftreueerklärung allerdings beträchtlich: Zum einen sieht das AEntG Mindestlöhne nur für einige wenige Branchen vor (immerhin für das praktisch bedeutsame Baugewerbe); zum anderen muss eben nur der Mindestlohn, nicht aber die gesamte Entgelttabelle des einschlägigen Tarifvertrags beachtet werden. Dieses Manko versucht der Entwurf in gewissem Umfang dadurch auszugleichen, dass in den nicht vom AEntG erfassten Wirtschaftszweigen die Auftragsvergabe an die Zahlung eines Mindestentgelts von € 8,50 geknüpft wird. Auch dieses Mindestentgelt liegt aber in aller Regel deutlich unter den geltenden Tarifen.

Bei der jetzt anstehenden Erarbeitung eines Tariftreuegesetzes sollten die europarechtlichen Spielräume nochmals ausgelotet werden. Hierbei könnte folgende neue Entwicklung von Interesse sein: Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) zu einem verbindlichen Bestandteil des Europäischen Rechts. Damit haben die sozialen Grundrechte eine erhebliche rechtliche Aufwertung erfahren. So ist in Art. 31 Abs. 1 GRC unter der Überschrift „Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“ geregelt, dass jede/r Arbeitnehmer/in ein Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen hat. Damit dürfte mehr als nur ein Minimalschutz gemeint sein. Da die Grundrechte der GRC von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zu beachten sind, spricht vieles dafür, dass künftig dem Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes der gleiche Rang wie der Dienstleistungsfreiheit einzuräumen ist. Dann liegt der Schluss nahe, dass der Staat als öffentlicher Auftraggeber eben nicht nur auf der Einhaltung der Mindestentgelte, sondern auch auf der Beachtung der jeweils einschlägigen Tarife bestehen darf. Wie der EuGH auf eine erneute Vorlage hin entscheiden wird, ist natürlich offen. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass der EuGH „zurückrudert“.

Dr. Eberhard Natter